«Syrien ist verwüstet. Es wird Generationen dauern, es wieder aufzubauen»
Nach 10 Jahren Krieg ist Syrien in einem Ausmass mit explosiven Überresten verseucht, wie es Expert*innen noch nie gesehen haben. Wenn der Konflikt beendet ist, beginnt die komplexe Arbeit der Minenräumung und des Wiederaufbaus des Landes. Emmanuel Sauvage, Direktor für die Reduzierung von bewaffneter Gewalt bei HI, erzählt uns mehr.
Emmanuel Sauvage, HI | © B.Blondel / HI
Was ist die Besonderheit der Kontamination in Syrien?
Es gibt zwei Gründe, warum Syrien ein Sonderfall ist, wenn es um die Beseitigung von Waffen geht. Der erste ist die sehr grosse Bandbreite der verwendeten Waffen. Nach einem Jahrzehnt des Konflikts ist der syrische Boden durch ein ganzes Spektrum an explosiven Waffen kontaminiert, darunter nicht explodierte Bomben, explosive Überreste und Sprengfallen sowie improvisierte Minen. Zum anderen sind die städtischen und stadtnahen Gebiete am stärksten betroffen. In Städten findet man das breiteste Spektrum an Explosivwaffen. Wir wissen aus Erfahrung, dass es besonders schwierig ist, städtische Gebiete zu räumen. In Raqqa zum Beispiel, wo 80% der Stadt zerstört sind, ist der Boden übersät mit Schutt, vermischt mit explosiven Überresten und Sprengfallen, die von den kriegführenden Parteien zurückgelassen wurden. In Laos werden 45 Jahre nach dem Vietnamkrieg immer noch Waffen geräumt, also denke ich, dass es mindestens zwei Generationen dauern wird, Syrien zu räumen.
Was sind die Hindernisse für die Minenräumung in Syrien heute?
Die Vielfalt der im Syrien-Konflikt eingesetzten Sprengstoffwaffen macht die Räumung komplex. Jede Art von Explosivwaffe funktioniert auf andere Weise. Man neutralisiert eine improvisierte Mine nicht auf dieselbe Weise wie eine nicht explodierte Bombe. Wir müssen unterschiedliche Expert*innen für die verschiedenen Arten von Explosivwaffen einsetzen. Da es in Syrien alle Arten von Explosivwaffen gibt, brauchen wir viel mehr Fachleute, die für diese Arten von Waffen ausgebildet sind.
Die Minenräumung in städtischen Gebieten ist besonders langwierig und kompliziert. Wenn in Städten Gebäude und Infrastruktur zerstört werden, ist der Schutt mit explosiven Überresten kontaminiert. In einigen syrischen Städten können wir die Kontamination fast in Kubikmetern messen, weil der Boden durch Schichten von Schutt und explosiven Überresten kontaminiert ist. Dies erfordert spezielle Ressourcen, Fachleute, die für diese Art der Kontamination geschult sind, und grosse Sorgfalt bei der Räumung und dem Wiederaufbau von Städten.
Wenn wir von "Wiederaufbau" sprechen, was genau meinst du damit?
Der Wiederaufbau beginnt natürlich mit der Beseitigung von Waffen. Die internationale Gemeinschaft muss Massnahmen ergreifen, um die syrische Bevölkerung vor explosiven Überresten zu schützen. Etwa 11,5 Millionen Syrer*innen von einer Gesamtbevölkerung von 17 Millionen sind derzeit durch diese Waffen gefährdet. Die Beseitigung der Waffen ist daher eine Priorität beim Wiederaufbau des Landes.
Dann kommt der eigentliche Wiederaufbau, der sich in voneinander abhängige Phasen gliedert: der Wiederaufbau von Infrastruktur und Wohnraum, die wirtschaftliche Erholung, aber auch die Wiederherstellung des Dialogs zwischen den verschiedenen Gemeinschaften, die durch ein Jahrzehnt des Konflikts beschädigt wurden. Das ist eine riesige Herausforderung. In Bosnien und Herzegowina war es in den frühen 2000er Jahren neben der Minenräumung wichtig, die Gemeinden wieder miteinander ins Gespräch zu bringen, um einen langfristigen Frieden zu planen. Die Minenräumung brachte die Menschen rund um ein Problem zusammen und bot einen Ausgangspunkt für Dialog und gemeinsame Initiativen. Es war der erste Schritt, um die durch den Konflikt verursachten Spannungen zu entschärfen.
Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir Einzelpersonen unterstützen können. Die Syrer*innen haben die Schrecken des Krieges erlebt und brauchen physische und psychische Unterstützung. Physische Traumata wie Amputationen, Hirn- und Rückenmarksverletzungen, aber auch psychische Traumata bedürfen einer besonderen Betreuung. Ich denke, es wird mindestens zwei Generationen brauchen, um Syrien wieder aufzubauen.
10 Jahre Krieg und Chaos in Syrien. 3 Millionen Kinder haben nie etwas anderes gekannt als den täglichen Krieg, Städte und Infrastrukturen sind zerstört. Was können wir tun? Mehr erfahren.
Wenn Sprengstoffwaffen in städtischen Gebieten eingesetzt werden, sind 88% der Opfer Zivilist*innen. Das Bombardieren der Zivilbevölkerung ist kein Krieg, es ist ein Verbrechen! Schliessen Sie sich unserem Kampf gegen die Bombardierung von Zivilist*innen an, indem Sie unsere Petition unterschreiben.
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Nadia Ben Said
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